Die verjährungsrechtliche Gleichstellung der Strafverfügung mit einem erstinstanzlichen Urteil im Verwaltungsstrafrecht: Abstraktes oder konkretes Konzept?
In einem kürzlich publizierten Beschluss BB.2024.51 vom 10. Februar 2025 (https://bstger.weblaw.ch/pdf/20250210_BB_2024_51.pdf) setzt sich die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts im Rahmen eines Verfahrens wegen Verdachts auf Verletzung der Meldepflicht gemäss Art. 37 GwG mit der Unterbrechung der Verfolgungsverjährung durch die Strafverfügung im Verwaltungsstrafrecht auseinander. Dabei hebt sie die bei ihr angefochtene Einstellungsverfügung der Strafkammer des Bundesstrafgerichts auf, die versucht hatte, die in diesem Zusammenhang zentralen Begriffe der bundesgerichtlichen Rechtsprechung – "umfassende Grundlage" und "kontradiktorisches Verfahren" – klarer zu umschreiben, was auch in einem früheren Aufsatz auf diesem Blog (https://verwaltungsstrafrecht.ch/de/kategorien/droit-penal-administratif-materiel/le-prononce-penal-de-ladministration-ninterrompt-pas-indistinctement-la-prescription-de-laction-penale) begrüsst wurde. Hingegen nicht zu überzeugen vermag die Argumentation der Beschwerdekammer, die ihren Beschluss in erster Linie damit begründet, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung kategorisch und unwiderlegbar vermute, Strafverfügungen nach Art. 70 VStrR seien verjährungsrechtlich einem erstinstanzlichen Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB gleichzustellen, ohne dass es auf den Einzelfall ankäme. Denn die genaue Lektüre der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zeigt auf, dass statt eines abstrakten, ein konkreter, einzelfallbezogener Massstab anzulegen ist.
1. Hintergrund
Die Frage der Verfolgungsverjährung, zu der sich die Beschwerdekammer in ihrem Beschluss äussert, stellt sich vor dem Hintergrund eines Verwaltungsstrafverfahrens, das das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) am 30. November 2020 wegen Verdachts der vorsätzlichen Verletzung der Meldepflicht gegenüber der Meldestelle für Geldwäscherei im Sinne von Art. 9 i.V.m. Art. 37 Abs. 1 GwG gegen A. eingeleitet hat. Dieses Verfahren war die Folge einer Strafanzeige der FINMA im Anschluss an ein Enforcement-Verfahren gegen einen Finanzintermediär, bei dem A. angestellt war. Während der Untersuchung des EFD bestritt A. die Vorwürfe. Er beantragte mehrfach die Beweisabnahme, darunter seine eigene Einvernahme sowie die Anhörung anderer an den Vorfällen beteiligter Personen, deren Aussagen im Rahmen des Enforcement-Verfahrens der FINMA belastend waren. Das EFD lehnte alle von A. gestellten Beweisanträge ab.
Mit Strafbescheid (s. Art. 64 VStrR) vom 10. Juni 2022 kam das EFD zum Schluss, dass sich A. der vorsätzlichen Verletzung der Meldepflicht schuldig gemacht hat; ihm wurde eine Busse im Betrag von CHF 150'000 auferlegt. Der von A. hiergegen erhobene Einspruch blieb ohne Erfolg; am 14. November 2022 erliess das EFD eine Strafverfügung (s. Art. 70 VStrR), deren Inhalt im Wesentlichen mit dem des Strafbescheids identisch war. In der Folge verlangte A. die gerichtliche Beurteilung durch die Strafkammer des Bundesstrafgerichts (s. Art. 72 ff. VStrR i.V.m. Art. 50 Abs. 2 FINMAG), der die Akten am 14. Dezember 2022 zugestellt wurden und die die Hauptverhandlung auf den 13. September 2023 ansetzte.
Mit Eingabe vom 31. Juli 2023 beantragte A. bei der Strafkammer die Einstellung des Verfahrens infolge Verjährung. Dieser wurde stattgegeben: Mit Verfügung vom 20. März 2024 stellte die Strafkammer das Verfahren gegen A. infolge Verjährung ein. Sie erwog zusammengefasst, die Strafverfügung vom 14. November 2022 sei nicht im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung einem erstinstanzlichen Urteil gleichzustellen, das nach Art. 97 Abs. 3 StGB die Verfolgungsverjährung unterbrechen würde, da sie weder auf einer umfassenden Grundlage noch in einem kontradiktorischen Verfahren ergangen war. Im Wesentlichen stütze die Strafkammer diese Auffassung darauf, dass das EFD weder den Beschwerdeführer noch Dritte, auf deren belastende, in den Akten enthaltene Aussagen die Strafverfügung abstellte, je einvernommen hatte und dies, obschon A. entsprechende Anträge gestellt hatte. Demzufolge sei die Verfolgungsverjährung sieben Jahre nach den erfolgten MROS-Meldungen eingetreten und somit seien die Taten am 1. Dezember 2022 bzw. am 6. August 2023 verjährt (vgl. zum Ganzen https://verwaltungsstrafrecht.ch/de/kategorien/droit-penal-administratif-materiel/le-prononce-penal-de-ladministration-ninterrompt-pas-indistinctement-la-prescription-de-laction-penale).
Gegen die Einstellungsverfügung der Strafkammer erhob das EFD Beschwerde bei der Beschwerdekammer. Es stellte sich auf den Standpunkt, die Verfolgungsverjährung sei durch die Strafverfügung vom 14. November 2022 unterbrochen worden, womit kein Verfahrenshindernis vorliege und die Sache zur Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens an die Strafkammer zurückzuweisen sei. In ihrem kürzlich publizierten Beschluss BB.2024.51 vom 10. Februar 2025 heisst die Beschwerdekammer nun die Beschwerde des EFD gut.
2. Erwägungen der Beschwerdekammer
In ihrer Begründung stellt die Beschwerdekammer vorweg fest, dass beide Parteien mit der Strafkammer einig gehen, dass am 1. Dezember 2022 bzw. am 6. August 2023 die Verfolgungsverjährung eingetreten wäre, soweit der Lauf der Verjährung nicht durch die am 14. November 2022 erlassene Schlussverfügung beendet worden ist (E. 2.2). Die Beschwerdekammer muss sich also mit der Frage auseinandersetzen, ob eine Strafverfügung auch dann als verjährungsunterbrechendes erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB gilt, wenn die Behörde es der beschuldigten Person nie ermöglicht hat, sich im Rahmen einer Einvernahme zu den Vorwürfen zu äussern und/oder wenn der beschuldigten Person nie die Möglichkeit eingeräumt wurde, Auskunftspersonen oder Zeugen im Rahmen einer Einvernahme Fragen zu stellen (E. 7.2.3).
Dabei ist die Beschwerdekammer jedoch offenbar zwischen ihrer eigenen Rechtsauffassung und ihrem Verständnis der (sehr umstrittenen) bundesgerichtlichen Rechtsprechung zwiegespalten:
Einerseits erwägt die Beschwerdekammer, dass A. in dem gegen ihn geführten Strafverfahren nie einvernommen wurde, obwohl er dies mehrfach, und insbesondere im Verfahren nach der Einsprache gegen den Strafbescheid, beantragt hatte. Diesbezüglich pflichtet die Beschwerdekammer der Strafkammer bei, dass die Beschränkung der Mitwirkung des Beschuldigten am Verfahren auf schriftliche Eingaben der tatsächlichen und rechtlichen Komplexität des Falles nicht gerecht zu werden vermochte. Ebenso standen A. anlässlich seiner Einvernahme im FINMA-Enforcementverfahren gegen seine Arbeitgeberin nicht die Rechte einer in einem Verwaltungsstrafverfahren beschuldigten Person zu. Die Beschwerdekammer hält des Weiteren fest, dass ein erstinstanzliches Urteil nach den allgemeinen Grundsätzen des schweizerischen Strafprozessrechts voraussetzt, dass der beschuldigten Person zumindest einmal die Möglichkeit gegeben wurde, sich vor einer Verurteilung in einer Einvernahme zu sämtlichen ihr gegenüber gemachten Vorwürfen zu äussern. Sei der beschuldigten Person nie Gelegenheit geboten worden, sich in einer Einvernahme zu äussern, könne, unabhängig davon, ob Sachbeweise vorliegen, kein erstinstanzliches Urteil ergehen (E. 8.1). Vor diesem Hintergrund bezeichnet die Beschwerdekammer die Erwägungen der Strafkammer als nachvollziehbar (E. 8.2 ab initio).
Andererseits führt die Beschwerdekammer aus, sie könne nicht ausser Acht lassen, dass die bundesgerichtliche Rechtsprechung "unwiderlegbar vermutet, dass Strafverfügungen verjährungsrechtlich einem erstinstanzlichen Urteil gemäss Art. 97 Abs. 3 StGB gleichkommen". Gemäss der Beschwerdekammer ergibt sich diese "kategorische Rechtsprechung" daraus, dass sie aus dem gesetzlichen Konzept des Verwaltungsstrafverfahrens abgeleitet werde und nicht die konkreten Umstände des Einzelfalles geprüft würden. Deshalb gehe das Bundesgericht davon aus, dass das Verfahren, welches auf Einsprache gegen Strafbescheid hin dem Erlass der Strafverfügung vorangehe, kontradiktorisch und umfassend ausgestaltet sei, auch wenn im Einzelfall etwa, wie vorliegend, eine verwaltungsstrafrechtliche Strafverfügung ohne jegliche Einvernahme des Beschuldigten bzw. Möglichkeit dazu ergangen ist, oder etwa auch dann, wenn die Strafverfügung faktisch ohne Weiterungen auf derselben summarischen Beweisgrundlage wie der angefochtene Strafbescheid beruhe. Insgesamt kommt die Beschwerdekammer zum Schluss, dass die angefochtene Verfügung zwar auf guten Gründen beruhe, aber dennoch im Widerspruch zur kategorischen Rechtsprechung des Bundesgerichts stehe (E. 8.2). Da die Beschwerdekammer an dieser Stelle des Beschlusses auf kein Urteil des Bundesgerichts (und auch keine anderen Quellen) verweist, um die dem Fall zugrunde gelegte Rechtsauffassung zu stützen, sind ihre Ausführungen vor dem Hintergrund der einschlägigen Rechtsprechung, wie sie die Beschwerdekammer andernorts im Beschluss zitiert, zu verstehen. In der Tat bezieht sich die Beschwerdekammer in einer theoretischen Erwägung auf mehrere Urteile des Bundesgerichts, darunter zwei Leitentscheide, die sie auch auszugsweise wiedergibt, ohne jedoch daraus explizit eine unwiderlegbare Vermutung beziehungsweise eine kategorische Rechtsprechung abzuleiten (E. 3). So hält die Beschwerdekammer fest, dass gemäss BGE 133 IV 112 E. 9.4.4 "die Strafverfügung (Art. 70 VStrR) nach dem Gesagten im Ergebnis einem gerichtlichen Entscheid gleichzustellen und demnach unter den Begriff des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB zu subsumieren [ist]" und gemäss BGE 147 IV 274 E. 1.5 eine Strafverfügung einem erstinstanzlichen Urteil gleichzustellen sei, da der beschuldigten Person die verwaltungsstrafrechtlichen Mitwirkungsrechte gewährt werden.
Zuletzt gibt die Beschwerdekammer angesichts des Zwiespaltes zwischen ihrer eigenen Rechtsauffassung und ihrem Verständnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung letzterem den Vorzug. Sie heisst die Beschwerde des EFD gut und weist die Sache zur Durchführung eines erstinstanzlichen Verfahrens an die Strafkammer zurück. Dieses Vorgehen begründet sie mitunter damit, dass im Falle einer Abweisung der Beschwerde – also der Bestätigung der Verfolgungsverjährung entgegen ihrem Verständnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung – dem EFD aufgrund von Art. 79 BGG kein ordentliches Rechtsmittel zur Verfügung stünde, was zur Folge hätte, dass ihr Entscheid einem Grundsatzentscheid des Bundesgerichts entgegenstünde, ohne dass ersterer ans Bundesgericht weitergezogen werden könnte. Die Koexistenz von zwei unvereinbaren Praxen zu derselben Rechtsfrage, je nachdem, ob ein Verwaltungsstraffall an einem kantonalen Strafgericht oder am Bundesstrafgericht anhängig gemacht wird, wäre im Widerspruch zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit und der einheitlichen Rechtsanwendung. Deshalb sei den Parteien die Möglichkeit zu geben, die sich stellenden Fragen dem Bundesgericht zu unterbreiten (E. 8.2), wohl im Rahmen einer späteren strafrechtlichen Beschwerde gegen den Entscheid der Berufungskammer des Bundesstrafgerichtes.
3. Kommentar
Der vorliegende Beschluss der Beschwerdekammer wirft die zentrale Frage auf, ob die Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach eine verwaltungsstrafrechtliche Strafverfügung verjährungsrechtlich einem erstinstanzlichen Entscheid gleichgestellt werden kann, abstrakt-kategorisch oder aber konkret-einzelfallbezogen zu verstehen ist. Angesichts des Umstandes, dass die Beschwerdekammer die weitverbreitete Kritik an der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu teilen scheint, erstaunt es doch, dass diese ohne Weiteres von einem abstrakten Konzept ausgeht. Denn, während ältere höchstgerichtliche Urteile einen solchen Schluss zumindest nicht ausschliessen, deutet die genaue Lektüre der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts darauf hin, dass diese auf einem konkreten Konzept beruht:
Unter den älteren Urteilen hervor sticht insbesondere BGE 133 IV 112, in welchem das Bundesgericht seine Rechtsprechung begründete. Die einschlägige Erwägung 9.4.4 liest sich wie folgt: "Der angeschuldigten Person werden im Verwaltungsstrafverfahren weitgehende Mitwirkungsrechte eingeräumt. Ihr wird insbesondere das rechtliche Gehör gewährt, sie kann an Beweisaufnahmen teilnehmen (Art. 35 VStrR) und hat ein Akteneinsichtsrecht (Art. 36 VStrR). Gegen einen Strafbescheid der Verwaltung (Art. 64 VStrR) kann sie – wie vorliegend geschehen – Einsprache erheben (Art. 67 VStrR). Die Verwaltung hat alsdann den angefochtenen Bescheid neu zu überprüfen (Art. 69 Abs. 1 VStrR) und eine Strafverfügung zu treffen (Art. 70 Abs. 1 VStrR), welche zu begründen ist (Art. 70 Abs. 2 VStrR). Jeder Strafverfügung (Art. 70 VStrR) hat damit zwingend ein Strafbescheid (Art. 64 VStrR) voranzugehen, welcher wie ein Strafmandat (Strafbefehl) auf summarischer Grundlage getroffen werden kann. Die Strafverfügung dagegen muss – einem erstinstanzlichen Urteil ähnlich – auf einer umfassenden Grundlage beruhen und wird in einem kontradiktorischen Verfahren erlassen […]. Während der Erlass eines Strafbescheids (Art. 64 VStrR) somit Parallelen zu einem Strafmandat (Strafbefehl) aufweist, ist die Strafverfügung (Art. 70 VStrR) nach dem Gesagten im Ergebnis einem gerichtlichen Entscheid gleichzustellen und demnach unter den Begriff des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von Art. 70 Abs. 3 StGB zu subsumieren."
Mit Verweis auf diesen Grundsatzentscheid fasste das Bundesgericht seine Rechtsprechung in BGE 139 IV 62 zusammen. Danach ist "in Strafsachen, die zunächst im Verwaltungsstrafverfahren gemäss dem Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht durchgeführt werden, […] die Strafverfügung der Verwaltung (Art. 70 VStrR) der massgebende Entscheid, mit welchem die Verjährung endet, und hört somit die Verjährung einerseits nicht bereits mit dem Strafbescheid der Verwaltung (Art. 64 VStrR) und andererseits nicht erst mit dem erstinstanzlichen Gerichtsurteil im Rahmen der gerichtlichen Beurteilung (Art. 73 ff., 79 VStrR) zu laufen auf" (E. 1.2; vgl. auch BGE 135 IV 196 E. 2; 142 IV 276 E. 5.2). Konkret stellte sich in diesem Urteil die Frage, was gilt, wenn das Einspracheverfahren nach Art. 71 VStrR übersprungen wird. Das Bundesgericht hielt fest, dass in diesen Fällen, "nicht der Strafbescheid (Art. 64 VStrR), sondern der erstinstanzliche Gerichtsentscheid im gerichtlichen Verfahren (Art. 73 ff., Art. 79 VStrR) als erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB zu qualifizieren [ist], nach dessen Ausfällung vor Ablauf der Verjährungsfrist die Verjährung nicht mehr eintritt" (E. 1.4.5). In diesem Zusammenhang machte das Bundesgericht auch eine Aussage, die scheinbar den Grundsatzentscheid von BGE 133 IV 112 in Frage zu stellen schien. Es liess nämlich ausdrücklich offen, ob folgerichtig auch in den Fällen, in denen das Einspracheverfahren nicht übersprungen wird, die Verjährung erst mit der Ausfällung des erstinstanzlichen Urteils im gerichtlichen Verfahren zu laufen aufhört und die Rechtsprechung in diesem Sinne zu ändern wäre (E. 1.4.6). Auch wenn sich das Bundesgericht später von dieser letzten Aussage distanziert hat (vgl. BGE 142 IV 276 E. 5.2), fällt auf, dass es in BGE 139 IV 62 wie zuvor in BGE 133 IV 122 keine Einzelfallprüfung durchführte, sondern die verjährungsunterbrechende Wirkung der Strafverfügung kategorisch verstand (vgl. auch Urteile 6B_1304/2017 vom 25. Juni 2018 E. 2.3.3 und 2.4.1; 6B_286/2018 vom 26. April 2019 E. 3.5.3).
Anders sollten die neueren Urteile zur Verjährung im Verwaltungsstrafrecht gelesen werden. Zentral ist hier der neueste Grundsatzentscheid BGE 147 IV 274. Darin setzte sich das Bundesgericht unter Bezugnahme auf zwischenzeitlich ergangene Urteile detailliert mit der Kritik an seiner Rechtsprechung auseinander und verneinte die Notwendigkeit einer Praxisänderung; ausserdem prüfte es, ob seine Rechtsprechung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK und seiner Rechtsprechungsänderung zur Verjährung im Abwesenheitsverfahren vereinbar ist (vgl. E. 1.2 ff.). Bereits die Formulierung, mit welcher das Bundesgericht seine Rechtsprechung zusammenfasst, spricht dafür, dass die verjährungsrechtliche Gleichstellung der Strafverfügung mit einem erstinstanzlichen Urteil nicht abstrakt, sondern nur bei Erfüllen bestimmter Voraussetzungen gilt: "Le Tribunal fédéral considère que le prononcé pénal est assimilable à un jugement de première instance au sens de l’art. 97 al. 3 CP dès lors que la personne accusée se voit accorder des droits de participation étendus en procédure pénale administrative" (E. 1.5). Ähnliches folgt auch aus dieser Stelle: "Enfin, le critère qui doit être pris en considération s’agissant de déterminer si l’acte en cause est apte à interrompre la prescription au sens de l’art. 97 al. 3 CP est celui de savoir s’il a été précédé d’une procédure contradictoire avec des droits de participation étendus pour les personnes touchées" (E. 1.7; Hervorhebung hinzugefügt). Noch weniger Zweifel lässt die bundesgerichtliche Behandlung der Rüge des Beschwerdeführers, wonach in jenem Fall die in der Rechtsprechung festgelegten Voraussetzungen für die Gleichstellung nicht erfüllt waren: Vorweg hielt das Bundesgericht fest, dass die Strafverfügung tatsächlich nicht gestützt auf ein kontradiktorisches Verfahren erlassen wurde und die Behörde alle seine Beweisanträge, obschon zweckmässig, abgelehnt hatte (E. 1.10), um dann darauf hinzuweisen, dass "pour être considéré comme jugement de première instance interruptif de la prescription, le prononcé pénal doit reposer sur une base circonstanciée et être rendu dans le cadre d’une procédure contradictoire" (E. 1.10.1; Hervorhebung hinzugefügt). Dass das Bundesgericht die Rüge am Ende dennoch abwies, lag nicht an einem abstrakt-kategorischen Verständnis seiner Rechtsprechung, sondern daran, dass der Beschwerdeführer in treuwidriger Weise selbst dazu beigetragen hatte, dass kein kontradiktorisches Verfahren stattfinden konnte, indem er gegen den Strafbescheid wissentlich eine unbegründete und somit mangelhafte Einsprache eingereicht hatte (vgl. Art. 68 Abs. 2 VStrR). Im Übrigen hätte der Beschwerdeführer auch mehrfach die Gelegenheit gehabt, seinen Standpunkt darzulegen und auf die ihm vorgeworfenen Vorwürfe zu antworten. Das Bundesgericht kam sodann zum Schluss: "Il s’ensuit que dans la constellation particulière du cas d’espèce, la procédure menée par le DFF ne faisait pas obstacle à ce que l’instance inférieure considère que le prononcé pénal du 5 avril 2018 mettait fin à la prescription conformément à l’art. 97 al. 3 CP" (E. 1.10.4, Hervorhebung hinzugefügt; vgl. ähnlich BGE 146 IV 201 nicht publ. E. 4.4.2 und 4.4.9 betr. Einziehungsverfügung).
Zuletzt lag auch dem BGE 150 IV 57 (Urteil 6B_1005/2021 vom 29. Januar 2024), auf welchen die Beschwerdekammer im vorliegenden Beschluss verweist (vgl. E. 3 in fine), eine Einzelfallbetrachtung zugrunde. Dort führte das Bundesgericht aus, dass "zu prüfen [ist], ob vorliegend die von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind, damit die Strafverfügung vom 12. Juli 2019 einem erstinstanzlichen Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB gleichzusetzen ist und den Eintritt der Verjährung hemmt. Wie dargelegt muss die Strafverfügung nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf einer detaillierten Grundlage beruhen und im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens ergangen sein, um als ein die Verjährung unterbrechendes erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB zu gelten" (nicht publ. E. 1.3.5). Das Bundesgericht erwog insbesondere, dass der Beschwerdeführerin im streitgegenständlichen Verwaltungsstrafverfahren mehrfach das rechtliche Gehör gewährt wurde, und schloss, dass sich "[a]us dem geschilderten Verfahrensablauf ergibt […], dass die Strafverfügung in einem kontradiktorischen Verfahren mit weitgehenden Mitwirkungsrechten der Beschwerdeführerin erlassen worden ist, weshalb sie in verjährungsrechtlicher Hinsicht einem erstinstanzlichen Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB gleichgestellt werden kann" (E. 1.3.5; Hervorhebung hinzugefügt).
Nach dem Gesagten kann die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichts nur so verstanden werden, dass eine Strafverfügung nur dann als verjährungsunterbrechendes erstinstanzliches Urteil gilt, wenn sie – im Einzelfall – auf einer umfassenden Grundlage beruht und im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens ergangen ist. Während das Bundesgericht früher vom üblichen Ablauf des verwaltungsstrafrechtlichen Verfahrens und den darin der beschuldigten Person gewährten Rechten pauschal auf die verjährungsunterbrechende Wirkung der Strafverfügung geschlossen zu haben scheint, hat sich in der Zwischenzeit gezeigt, dass das Bundesgericht die Voraussetzungen der umfassenden Grundlage und des kontradiktorischen Verfahrens im Einzelfall prüft, woraus unseres Erachtens zu schliessen ist, dass eine Strafverfügung der Verwaltung nicht bedingungslos einem verjährungsunterbrechenden erstinstanzlichen Urteil gleichgestellt werden kann. Alles andere würde dem Zweck der Verjährung entgegenlaufen, wonach die Strafverfolgung aus verschiedenen prozessualen und materiell-strafrechtlichen Gründen nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne einzustellen ist (vgl. dazu BGE 134 IV 328 E. 2.1; BSK StGB-Zurbrügg, Vor Art. 97-101 N 42 ff.) und einzig durch ein erstinstanzliches Urteil unterbrochen werden kann. Des Weiteren könnte bei einem kategorischen Ansatz der Missbrauch nicht ausgeschlossen werden, zumal dadurch bei den Verwaltungsstrafbehörden ein Anreiz geschaffen würde, einen Strafbescheid und, nach erfolgter Einsprache, sogleich eine Strafverfügung zu erlassen, um die Verjährung zu unterbrechen, ohne aber deren sachverhaltliche Grundlage weiter zu erhärten und ohne der beschuldigten Person die Möglichkeit zu geben, ihre Mitwirkungsrechte im Rahmen einer Anhörung und durch Infragestellung der belastenden Beweismittel wahrzunehmen.
Gerade weil sich das von der Beschwerdekammer dem vorliegenden Beschluss zugrunde gelegte Verständnis der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als unzutreffend erweist, verfängt auch ihr nachgeschobenes Argument nicht, wonach sie bereits deshalb die Beschwerde gutheissen muss, weil dem beschwerdeführenden EFD im Falle einer Abweisung aufgrund von Art. 79 BGG kein ordentliches Rechtsmittel zur Verfügung stünde, um die Frage der Verjährung dem Bundesgericht zu unterbreiten. Auch wenn unvereinbare Praxen zur selben Rechtsfrage durch zwei letztinstanzliche Gerichte zugunsten der Rechtssicherheit und Rechtseinheit zweifelsohne zu vermeiden sind, kann nicht ausser Acht gelassen werden, dass die ratio legis von Art. 79 BGG darin besteht, das Bundesgericht von einem Teil der von der Beschwerdekammer beurteilten Fälle zu entlasten (Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. Februar 2001, BBl 2001 4202, S. 4231; BGE 136 IV 92 E. 3.2). Dass gegen einen Entscheid der Beschwerdekammer nach dem geltenden Recht kein Rechtsmittel ans Bundesgericht besteht, stellt auch keinen Grund dar, die Sache zur Durchführung einer Hauptverhandlung an die Strafkammer zurückzuweisen (oder irgendeinen anderen Entscheid zu treffen). Dies gilt umso mehr aus zwei Gründen: Erstens besteht das potenzielle Risiko konfligierender Rechtsverständnisse grundsätzlich bei jedem Entscheid der Beschwerdekammer, ohne dass diese jemals zuvor Bedenken betreffend den fehlenden bundesgerichtlichen Rechtsschutz geäussert zu haben scheint. Zweitens gehen mit der Rückweisung erhebliche Nachteile einher, namentlich in der Form eines langen, (emotional und finanziell) belastenden sowie mit Blick auf das Ergebnis, auf welches die neuere Rechtsprechung schliessen lässt, wohl auch unverhältnismässigen gerichtlichen Verfahrens. Unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit scheint die Beschwerdekammer, die mit ihrem Vorgehen die Situation verhindern will, dass das EFD sich gegen ihren Entscheid nicht ans Bundesgericht wenden kann, hier zu übersehen, dass Art. 79 BGG es auch dem beschuldigten Beschwerdegegner verunmöglicht, sich gegen die Rückweisung zur Wehr zu setzen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdekammer im vorliegenden Beschluss zwar mit guten Gründen ihre Rechtsauffassung zum Ausdruck bringt, wonach die verjährungsrechtliche Gleichstellung der verwaltungsstrafrechtlichen Strafverfügung mit einem erstinstanzlichen Urteil vom konkreten Einzelfall abhängt, sie dann jedoch zugunsten der Rechtssicherheit und der Rechtseinheit ihrem Verständnis der vermeintlich kategorisch-abstrakten Rechtsprechung des Bundesgerichts den Vorzug lässt. Dies ist insofern bedauernswert, als die genaue Lektüre der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts zweifellos darauf hindeutet, dass eine Strafverfügung nur dann als verjährungsunterbrechendes erstinstanzliches Urteil gelten kann, wenn sie – im Einzelfall – auf einer umfassenden Grundlage beruht und im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens ergangen ist.
Zitiervorschlag: Andrew Garbarski/Mattia Brugger, Die verjährungsrechtliche Gleichstellung der Strafverfügung mit einem erstinstanzlichen Urteil im Verwaltungsstrafrecht: Abstraktes oder konkretes Konzept?, in : www.verwaltungsstrafrecht.ch vom 13. März 2025
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