ne bis in idem im Verwaltungsstrafrecht
Kann ein Verwaltungsstrafverfahren durchgeführt werden, nachdem für denselben Sachverhalt ein Strafverfahren eingestellt wurde? Nein, sagt das Bundesgericht und heisst die Beschwerde im französischsprachigen Entscheid BGer 6B_1230/2023 vom 6. Februar 2025 (hier abrufbar: https://tinyurl.com/5ykmf5m6) gut.
Im vorliegenden Fall ging es um ein grosses internationales Korruptionsverfahren im Zusammenhang mit dem Handel von Aluminiumoxid, in dem der Beschwerdeführer allerdings 2013 von einem britischen Gericht freigesprochen worden war. Bei den im Schweizer Kontext relevanten Vorwürfen ging es um 180 Rechnungen für den Verkauf von Aluminiumoxid, die von einem vom Beschwerdeführer beherrschten Unternehmen ausgestellt worden waren. Diese Aluminiumoxid-Verkäufe wurden jedoch nie in den Jahresabschlüssen dieser Gesellschaft ausgewiesen, sondern sollen über Drittfirmen dem Beschwerdeführers zugeführt worden sein.
Die Bundesanwaltschaft hatte 2009 ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Bestechung, Urkundenfälschung, Geldwäscherei und ungetreue Geschäftsbesorgung eröffnet, das jedoch 2015 teilweise und 2021 ganz eingestellt wurde. Die Eidgenössische Steuerverwaltung ESTV eröffnete 2012 ein Verwaltungsstrafverfahren wegen Abgabebetrugs nach Art. 14 Abs. 2 VStrR und Steuerhinterziehung nach Art. 61 Abs. 1 lit. a VStG, welches mit Strafverfügung wegen Abgabebetrugs nach Art. 14 Abs. 2 VStrR abgeschlossen wurde. im sich hieran schliessenden gerichtlichen Verfahren wurde der Beschwerdeführer zweitinstanzlich zu einer Geldstrafe von 270 Tagessätzen à 3000 Franken sowie einer Busse von 72'206'133.25 Franken (sic!) verurteilt. Der Beschwerdeführer rügte vor Bundesgericht u.a. eine Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem aus internationaler wie auch nationaler Sicht.
Dies zurecht, wie das Bundesgericht nun feststellte. Das Gericht begründete die Gutheissung der Beschwerde mit einer Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem, sprich dem Verbot, für einen bereits rechtskräftig abgeurteilten Vorwurf nochmals verfolgt resp. bestraft zu werden. Dabei erinnerte das höchste Gericht zunächst einmal an die völker-, verfassungs- und strafrechtliche Verankerung von ne bis in idem. Inhaltlich erfordert der Grundsatz, dass die betroffene Person und die zugrunde liegenden Tatsachen identisch sind. Tatidentität liegt vor, wenn dem ersten und dem zweiten Strafverfahren identische oder im Wesentlichen gleiche Tatsachen zugrunde liegen. Das Bundesgericht weist aber auch auf seine bestehende Rechtsprechung sowie die Rechtsprechung des EGMR (Sergeï Zolotukhine vs. Russland vom 10. Februar 2009) hin, wonach die rechtliche Einordnung der Tatsachen kein relevantes Kriterium darstellt. Auch eine vorgängig erfolgte Einstellung stellt einen rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens dar und ne bis in idem verhindert somit die Eröffnung eines neuen Verfahrens aufgrund desselben Sachverhalts. Der Grundsatz ist schliesslich nicht verletzt, wenn ein ausreichend enger sachlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen den betroffenen Verfahren besteht, die sich auf dieselbe Sachverhaltskonstellation beziehen, so dass sie als zwei Aspekte eines einheitlichen Systems betrachtet werden können – so z.B. bei parallel laufenden Straf- und Verwaltungsverfahren bei Verstössen gegen das Strassenverkehrsgesetz (E.2.1.)
Im vorliegenden Fall stellte sich nun die Frage, ob das Straf- und Verwaltungsstrafverfahren auf identischen Tatsachen oder im wesentlichen gleichen Tatsachen beruhte. Das Bundesgericht bejahte dies mit der folgenden Begründung: Im verwaltungsstrafrechtlichen Verfahren wurde dem Beschwerdeführer als faktisches Organ der Gesellschaft vorgeworfen, die Verrechnungssteuer auf den Gewinn aus dem Aluminiumoxid-Verkauf hinterzogen zu haben, und zwar durch die Überweisung des Verkaufserlöses auf andere Konti anstatt auf das Konto der Gesellschaft. Das von der Bundesanwaltschaft geführte Strafverfahren betraf den Sacherhalt, dass der Beschwerdeführer als faktischer Geschäftsführer der Gesellschaft den Umsatz und den Gewinn aus dem Verkauf von Aluminiumoxid über dritte Unternehmen eingezogen haben soll, ohne diese Verkäufe in der Buchhaltung der Gesellschaft auszuweisen. Daraus folgert das Bundesgericht, dass dem Beschwerdeführer in beiden Verfahren vorgeworfen wird, in seiner Eigenschaft als faktisches Organ der Gesellschaft den Erlös aus dem Verkauf von Aluminiumoxid über Drittfirmen selbst einkassiert zu haben, anstatt diese Gelder auf die Gesellschaft zu verbuchen. Vergleicht man daher die Tatsachen, die den einzelnen Verfahren zugrunde liegen, dann zeigt sich gemäss Bundesgericht, dass diese Tatsachen zumindest im Wesentlichen gleich sind. Dass die beiden Verfahren denselben Sachverhalt betrafen, bemerkte sogar die Bundesanwaltschaft in ihrer Einstellungsverfügung (E.2.5.1). Ebenfalls identisch war zudem die in beiden Verfahren betroffene Person des Beschwerdeführers (E.2.5.2.).
Das Bundesgericht klärte schliesslich auch die Frage, ob nach einer Einstellung der Bundesanwaltschaft aufgrund von Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO (Nichterfüllung der Tatbestände der ungetreuen Geschäftsbesorgung sowie der Geldwäscherei) überhaupt noch Raum für eine Verfolgung wegen verwaltungsstrafrechtlicher Fiskaldelikte bestehe, wie dies die Bundesanwaltschaft basierend auf dem lex specialis Grundsatz argumentierte. Aufgrund der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit, die beiden parallellaufenden Strafverfahren zu verbinden, erachtete das Bundesgericht die Voraussetzung, dass es sich bei den beiden Verfahren um zwei Aspekte eines einheitlichen Systems handle (wie dies z.B. bei parallellaufenden Straf- und Verwaltungsverfahren bei SVG-Delikten der Fall ist), als nicht gegeben.
Da bereits eine Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem im nationalen Verhältnis verletzt war, hatte das Bundesgericht zudem die Frage nach der internationalen Anwendbarkeit des Grundsatzes nicht mehr zu prüfen.
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