Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR als parallele Anspruchsgrundlage
Im zur Publikation in der amtlichen Sammlung bestimmten Leiturteil vom 15. Dezember 2023 (9C_716/2022; hier abrufbar:https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza://15-12-2023-9C_716-2022&lang=de&zoom=&type=show_document) setzte sich das Bundesgericht zum ersten Mal mit dem Verhältnis des Anspruchs der Verwaltung nach Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR zu den abgaberechtlichen Forderungen in den Steuergesetzen auseinander.
Das Urteil betraf eine Forderung auf Mehrwertsteuer, Automobilsteuer und Zoll der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) für zwei am 13. Oktober 2011 unverzollt eingeführter Oldtimer mit einem Wert von CHF 1.3 Mio. bzw. CHF 25 Mio.
Im Zeitpunkt der Eröffnung der Zollstrafuntersuchung am 13. Dezember 2017 waren die auf die jeweiligen Spezialgesetze (Mehrwertsteuergesetz [MWSTG], Automobilsteuergesetz [AStG] und Zollgesetz [ZG]) gestützten Forderungen aufgrund der fünfjährigen Verjährung von Art. 75 Abs. 1 ZG bereits verjährt und deshalb untergegangen.
Die EZV konnte ihre Forderung von gesamthaft CHF 3'889'159 somit nur gestützt auf Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR geltend machen, da dieser Anspruch gemäss Art. 12 Abs. 4 i.V.m. Art. 11 Abs. 3 VStrR einer Verjährung von sieben Jahren (welche am 13. Oktober 2018 ablief) unterworfen war.
Unbestritten war, dass angesichts der unterbliebenen Zollanmeldung kein Anspruch auf eine abgabenfreie Einfuhr bestand und die Verbringung der Oldtimer ins Inland folglich die objektiven Tatbestände der Steuer- bzw. Zollhinterziehung (Art. 36 Abs. 1 AStG, Art. 96 Abs. 4 MWSTG und Art. 118 Abs. 1 ZG) erfüllt hat. Die Steuerpflichtigen stellten sich aber auf den Standpunkt, dass aufgrund der spezialgesetzlichen Verjährungsbestimmung von Art. 75 Abs. 1 ZG auch der Anspruch nach Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR verjährt sei bzw. nicht geltend gemacht werden könne.
Die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts schien auf jeden Fall implizit davon auszugehen, dass es sich bei Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR um eine parallele Anspruchsgrundlage der Verwaltung handle, welche diese alternativ zur Anspruchsgrundlage im jeweiligen Spezialgesetz (z.B. ZG, AStG, MWSTG, Verrechnungssteuergesetz [VStG] oder Stempelabgabengesetz [StG]) geltend machen kann und auch dann noch durchgesetzt werden kann, wenn die Forderung im Spezialgesetz bereits verjährt war.
Nur so war es nämlich möglich, dass die ESTV vor der per 1. Januar 1998 erfolgten Anpassung von Art. 16 Abs. 2 VStG gestützt auf Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR Verzugszinsen für (noch nicht behördlich gemahnte) Verrechnungssteuerforderungen erheben konnte. Auch Zollforderungen in strittigen Verfahren stützten sich bis zum Inkrafttreten des Zollgesetzes vom 18. März 2005 regelmässig auf Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR, da die im alten Zollgesetz vorgesehene relative Verjährungsfrist von einem Jahr regelmässig bereits verstrichen war.
Während in der Literatur deshalb die Auffassung vertreten wird, dass es sich bei Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR um eine parallele Anspruchsgrundlage handelt, welche von der Verwaltung alternativ zum Anspruch im jeweiligen Spezialgesetz angerufen werden könne (so explizit Oesterhelt/Fracheboud, BSK VStrR, Art. 12 VStrR N 1 und 13), wurde diese Frage vom Bundesgericht bis zum Leiturteil vom 15. Dezember 2023 nie explizit thematisiert.
Unter Berufung auf die historische, systematische und teleologische Auslegung von Art. 12 VStrR schloss sich das Bundesgericht im Leiturteil vom 15. Dezember 2023 der in der Literatur vertretenen Auffassung an und kam zum Schluss, dass Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR eine parallele Anspruchsgrundlage sei, welche von der Verwaltung auch dann in Anspruch genommen werden kann, wenn die Forderung gemäss Spezialgesetz bereits verjährt sei.
Art. 12 VStrR verleiht der Verwaltung somit in Bezug auf die Nachleistung von Abgaben einen eigenständigen Anspruch, der von der Abgabeforderung separat ist. Die Verwaltung kann wahlweise den einen oder den anderen Anspruch erheben. Die Forderungen verjähren unabhängig voneinander. Allerdings führt die Befriedigung des einen zum Untergang des anderen Anspruchs, soweit sich die Ansprüche betragsmässig decken (alternative Anspruchskonkurrenz).
Die Verjährung des auf Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR gestützten Anspruchs richtet sich gemäss Art. 12 Abs. 4 VStrR nach der Verjährungsregelung von Art. 11 Abs. 3 VStrR und beträgt mithin sieben Jahre.
Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Verjährungsregelung von Art. 11 Abs. 3 VStrR durch eine explizite Regelung in einem Spezialgesetz übersteuert werde. Dies ist weder für den Zoll noch für die Automobileinfuhrsteuer der Fall.
Anders verhält es sich mit Bezug auf die Mehrwertsteuer auf der Einfuhr der Oldtimer, bei der Art. 11 Abs. 3 VStrR durch die Spezialnorm von Art. 105 Abs. 3 MWSTG übersteuert werde. Nach Art. 105 Abs. 3 MWSTG richtet sich die Verjährung der Nachleistungspflicht nach Art. 105 Abs. 1 und 2 MWSTG, wenn "ein Tatbestand der Artikel 96 Absatz 4, 97 Absatz 2 oder 99 oder nach den Artikeln 14-17 VStrR erfüllt ist," andernfalls nach Art. 42 MWSTG.
Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung (Stefan Oesterhelt, Verjährung im Steuerrecht, ASA 79 (2010/2011), 840) sei aber auch hier alleine auf den objektiven Tatbestand der Einfuhrsteuerhinterziehung (Art. 96 Abs. 4 MWSTG) abzustellen. Da der objektive Tatbestand der Einfuhrsteuerhinterziehung in casu erfüllt worden ist, ergibt sich für den vorliegenden Fall also, dass auch in Bezug auf die Nachleistung der Einfuhrsteuer die Verjährung für die Forderung aus Art. 12 VStrR frühestens sieben Jahre nach der Einfuhr eingetreten ist, mithin am 13. Oktober 2018.
Das Bundesgericht hält fest, dass die Verjährung gemäss Art. 11 Abs. 3 VStrR seit der Eröffnung der Nachleistungsverfügung vom 20. September 2018 am 21. September 2018 ruht. Diese Aussage ist insofern bemerkenswert, als dass im BGE 143 IV 228 klargestellt wurde, dass die Verjährung gemäss Art. 11 Abs. 3 VStrR bereits ab dem Datum des Entscheids (in casu also dem 20. September 2018) und nicht erst ab Eröffnung des Entscheids ruhe.
In der Literatur wird hingegen die Auffassung vertreten, dass – entgegen BGE 143 IV 228 – nicht auf das Datum des Entscheids, sondern auf dessen Eröffnung gegenüber dem Steuerpflichtigen abzustellen sei, da dieser zuvor noch gar keine Kenntnis vom Entscheid hat damit überdies verhindert werden kann, dass die Behörden zwischen der Ausfällung und der Zustellung eines Entscheides zu viel Zeit verstreichen lassen (so etwa Oesterhelt/Fracheboud, BSK VStrR, Art. 11 N 34; Bürgisser, RDAF 2019 II, 165 f.).
Wenn das Bundesgericht nun im vorliegenden Fall auf das Datum der Eröffnung des Entscheids (sc. den 21. September 2018) abstellt, scheint es sich dieser Literaturmeinung anzuschliessen. Da es sich aber nicht mit der gegenteiligen Rechtsprechung im BGE 143 IV 228 bzw. der zu dieser Frage ergangenen Literatur auseinandersetzt ist nicht klar, ob hier bewusst von der bisherigen Rechtsprechung abgewichen wurde und (zumindest mit Bezug auf den Fristenstillstand von Art. 11 Abs. 3 VStrR für den Nachleistungsanspruch von Art. 12 Abs. 1 lit. a VStrR) künftig auf die Eröffnung der Verfügung nicht auf das Verfügungsdatum abstellen wird. In der Sache wäre eine Praxisänderung in dieser Frage aus den oben genannten Gründen freilich wünschenswert.
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