Die Fernwirkung des strafrechtlichen nemo-tenetur-Grundsatzes im Verwaltungsverfahren – ein Paradigmenwechsel am Beispiel des FINMA (Pre-)Enforcements
Im Urteil 7B_45/2022 vom 21. Juli 2025 (hier abrufbar https://search.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&sort=relevance&insertion_date=&top_subcollection_aza=all&query_words=7b_45%2F2022&rank=1&azaclir=aza&highlight_docid=aza%3A%2F%2F21-07-2025-7B_45-2022&number_of_ranks=281) befasst sich das Bundesgericht mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens erhobene Beweise in einem späteren Strafverfahren verwertet werden dürfen. Im Zentrum steht dabei der nemo-tenetur-Grundsatz. Obwohl das Urteil nicht zur Publikation in der amtlichen Sammlung bestimmt und nur in Dreierbesetzung erlassen worden ist, enthält es einige interessante und neuartige Ausführungen. Das Bundesgericht hält darin nämlich nicht nur fest, dass eine Person – trotz Mitwirkungspflicht im Verwaltungsverfahren – ein Verweigerungsrecht hat, wenn ihr dadurch eine strafrechtliche Verfolgung droht oder wenn dadurch ihre Lage in einem anhängigen oder künftigen Verfahren verschlechtert werden könnte. Sondern das Bundesgericht hebt ebenfalls hervor, dass die Verwaltungsbehörde die Person auch auf dieses Recht hinweisen muss. Tut sie dies nicht, obwohl der untersuchte Sachverhalt ebenfalls strafrechtlich relevant sein könnte, verletzt sie den nemo-tenetur-Grundsatz, was die Unverwertbarkeit der entsprechenden Beweise in einem späteren Strafverfahren nach sich zieht. In diesem Urteil distanziert sich das Bundesgericht also von seiner bisherigen Rechtsprechung, die die Verwertbarkeit nur in Ausnahmefällen, nämlich bei Anwendung sogenannt unzulässigen Zwanges («improper compulsion»), verweigerte.
1. Sachverhalt und Prozessgeschichte
Dem Strafverfahren, das Gegenstand des bundesgerichtlichen Urteils ist, liegt ein Verwaltungsverfahren in der Form eines FINMA Pre-Enforcement Verfahrens zugrunde. Denn im Jahr 2014 ersuchte die B. SA, vertreten durch ihren Präsidenten und Verwaltungsrat A., die FINMA um eine Bestätigung dafür, dass für ihre Tätigkeit im Bereich der Fondsverwaltung keine Pflicht zur Zugehörigkeit zu einer Selbstregulierungsorganisation bestehe. In der Folge forderte die FINMA die Gesellschaft mehrfach auf, spezifische Fragebögen gemäss GwG und FINMAG auszufüllen. In den Schreiben wies die FINMA auf die gesetzliche Pflicht zur wahrheitsgemässen Auskunftserteilung (Art. 29 FINMAG) sowie auf die strafrechtlichen Folgen bei unerlaubter Tätigkeit (Art. 44 FINMAG) bzw. bei Falschangaben (Art. 45 FINMAG) hin. Da die B. SA nicht reagierte, drohte ihr die FINMA einige Wochen später an, bei weiterer Nichtkooperation auf Basis der vorhandenen Akten zu entscheiden, einen Untersuchungsbeauftragten einzusetzen oder die Gesellschaft auf ihre Warnliste zu setzen. Daraufhin retournierte die B. SA die ausgefüllten und von A. unterzeichneten Fragebögen an die FINMA.
Ein Jahr später erstattete die FINMA Strafanzeige beim Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) gegen die Verantwortlichen der B. SA wegen Verdachts auf unerlaubte Finanzintermediation (Art. 44 FINMAG i.V.m. Art. 14 GwG). Das EFD eröffnete in der Folge ein Verwaltungsstrafverfahren, das später auf A. ausgedehnt wurde und – gestützt auf die von der FINMA amtshilfeweise übermittelten Fragebögen – in einem Strafbescheid und anschliessend einer Strafverfügung gegen diesen mündete. Daran änderte auch dessen Begehren um gerichtliche Beurteilung nichts: Sowohl die Straf- als auch die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts verurteilten A. wegen vorsätzlicher, unerlaubter Finanzintermediation zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse.
A. ist daraufhin ans Bundesgericht gelangt und rügte insbesondere die Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes. Er machte geltend, die FINMA habe ihn nicht darüber informiert, dass er die Mitwirkung verweigern dürfe, wenn er sich selbst belaste. Die auf diese Weise von der FINMA erlangten Formulare seien daher im Strafverfahren unverwertbar.
2. Erwägungen des Bundesgerichts
Auf die Beschwerde von A. hin muss sich das Bundesgericht daher mit dem Spannungsfeld zwischen der verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht (hier: Art. 29 FINMAG) und dem strafprozessualen Selbstbelastungsverbot befassen.
Einleitend zeigt das Bundesgericht anhand der Rechtsprechung des EGMR auf, dass der nemo-tenetur-Grundsatz, der seine Grundlage in Art. 32 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 14 Abs. 3 lit. g UNO-Pakt II sowie Art. 113 Abs. 1 StPO findet, bezweckt, den Beschuldigten vor der ungerechtfertigten Zwangsausübung durch die Behörden zu schützen. Das Bundesgericht stellt sodann aber auch klar, dass der Grundsatz nicht absolut gilt: Das Ausmass des Zwangs ist mit Art. 6 Abs. 1 EMRK erst dann unvereinbar, wenn es das Selbstbelastungsverbot in seinem Wesensgehalt beeinträchtigt, wobei die Verwendung der unter Zwang erlangten Beweismittel im Strafverfahren sowie das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung in diesem Zusammenhang entscheidend sind (E. 2.2.1).
Zur verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht verweist das Bundesgericht zunächst darauf, dass diese grundsätzlich auch dann bestehe, wenn die betroffene Person sich selbst belasten müsste (E. 2.2.2). Allerdings weicht das Bundesgericht sogleich wieder von dieser Position ab, indem es unter Bezugnahme auf einen nicht publizierten Entscheid aus dem Jahre 2023 (BGer 1B_92/2023 v. 11.5.2023, E. 5.4) Folgendes festhält: «Die Person, die der FINMA nach Art. 29 Abs. 1 FINMAG Auskunft erteilen und Unterlagen vorlegen muss oder nach Art. 29 Abs. 2 FINMAG meldepflichtig ist, kann grundsätzlich die Auskunft verweigern, wenn sie dadurch strafrechtlich verfolgt werden könnte oder ihre Stellung in einem hängigen oder drohenden Verfahren verschlechtert würde […]; dieses Recht gilt auch für juristische Personen, sofern sie beispielsweise nach Art. 102 StGB oder Art. 49 FINMAG strafrechtlich verantwortlich sind» (E. 2.2.3; Übersetzung durch die Autoren). Damit ist der erste Grundstein für sein Urteil in der Sache gelegt.
Bevor sich das Bundesgericht jedoch zur strafprozessualen Verwertbarkeit eines Beweismittels, das im Verwaltungsverfahren ohne Hinweis auf dieses Auskunftsverweigerungsrecht beschafft wurde, äussert, wendet es sich prozessualen Fragen zu, die die Zusammenarbeit zwischen der FINMA und den inländischen Strafbehörden betreffen (Art. 38 ff. FINMAG). Das Bundesgericht erwägt, dass die FINMA grundsätzlich zur Amtshilfe verpflichtet ist und es daher Sache der Strafbehörden ist, im Rahmen der Beweiswürdigung zu prüfen, ob die im Verwaltungsverfahren erhobenen Beweise im Strafverfahren verwertbar sind. Die betroffenen Personen sind im Rechtshilfeverfahren nicht Parteien und können daher ihre Rechte nur im Rahmen des Strafverfahrens geltend machen und sich dort auf die Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes berufen (E. 2.2.4).
Erst zu Ende, praktisch bereits in der Subsumtion, stellt das Bundesgericht die für das Urteil zentrale Erwägung an. Es hält sodann nicht nur fest, dass aus dem nemo-tenetur-Grundsatz ein verwaltungsverfahrensrechtliches Aussageverweigerungsrecht abgeleitet werden kann, das Vorrang vor Art. 29 Abs. 1 FINMAG hat. Sondern sei die FINMA auch dazu verpflichtet diejenige Person, von der sie die Mitwirkung bei der Beschaffung bestimmter Informationen verlangt, darauf hinzuweisen, dass sie die Mitwirkung verweigern kann, wenn ihr dadurch eine strafrechtliche Verfolgung droht oder wenn sich ihre Lage – in einem anhängigen oder künftigen Verfahren – dadurch verschlechtern könnte. Was im Ergebnis überzeugt, vermag das Bundesgericht jedoch nur unbeholfen zu begründen, und zwar wie folgt: «Dieser Grundsatz ist von zentraler Bedeutung, da eine Person, die mit der Verwaltungsbehörde zusammengearbeitet hat, nicht davon ausgehen sollte, dass die ihr übermittelten Beweise in einem Strafverfahren uneingeschränkt verwertbar sind, wenn sie im Rahmen dieses Verfahrens die Übermittlung an die Strafverfolgungsbehörde hätte vermeiden können. Das Gegenteil zuzulassen, würde den Strafbehörden das Recht einräumen, die Grundsätze des Strafverfahrens leicht zu umgehen, um unter Verletzung des nemo-tenetur-Grundsatzes Beweise zu erlangen und zu verwerten. Dies ist sicherlich nicht der Zweck von Art. 38 FINMAG […]. Das Problem liegt im Wesentlichen darin, dass das der Strafverfolgungsbehörde übermittelte und von ihr verwertete Beweismittel möglicherweise nie zu ihr gelangt wäre, wenn der Beschuldigte von seinem Mitwirkungsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und sich während des Verwaltungsverfahrens völlig passiv verhalten hätte […]» (E. 2.4).
Die Rechtsfolge für den Fall, dass diese Belehrung ausbleibt, nennt das Bundesgericht bloss in der Subsumtion und ohne eigentliche Ausführungen zur Beweisverwertung im Strafverfahren. Das Bundesgericht sieht darin, dass die FINMA den Beschwerdeführer im Hinblick auf das konkrete Verwaltungsverfahren zur Ausfüllung der Fragebögen aufgefordert hatte, ohne ihn über sein Mitwirkungsverweigerungsrecht zu informieren, obwohl die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung bestand und die FINMA sich deren bewusst war, eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren. Unter diesen Umständen sei gemäss Bundesgericht festzuhalten, dass die vom Beschwerdeführer ausgefüllten Formulare unverwertbar seien (E. 2.4).
Entsprechend dieser Erwägungen hebt das Bundesgericht die Verurteilung von A. auf und weist die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück, wobei es anordnet, dass die Fragebögen nicht mehr verwertet werden dürfen und aus den Akten zu entfernen sind. Es wird sich vor dem Bundesstrafgericht herausstellen, ob eine Verurteilung gestützt auf die übrigen Beweismittel noch möglich ist oder ob in dubio pro reo ein Freispruch zu ergehen hat.
3. Kommentar
Bevor auf die eigentliche Thematik des Urteils eingegangen werden kann, sind zwei Vorbemerkungen angezeigt.
Erstens geht es im Urteil, auch wenn sich dieses hauptsächlich mit den Pflichten und Rechten der Parteien eines Verwaltungsverfahrens (genauer des FINMA Pre-Enforcements) auseinandersetzt, letztlich um die Frage der Beweisverwertbarkeit in einem Strafverfahren. Das Urteil wurde denn auch auf strafrechtliche Beschwerde hin erlassen und ist vor diesem Hintergrund zu verstehen.
Zweitens handelt es sich um eines der wenigen Urteile, die sich mit den Bestimmungen über die Zusammenarbeit der FINMA mit den inländischen Strafbehörden befassen (Art. 38 ff. FINMAG). Es bestätigt die Grundsätze, die bereits in einem früheren Urteil zu diesem Thema festgelegt wurden (vgl. BGer 1B_268/2019 vom 25. November 2019). Gemäss diesen Grundsätzen ist die FINMA verpflichtet, Strafbehörden die Rechtshilfe zu leisten und kann diese nur ausnahmsweise, aus den in Art. 40 FINMAG vorgesehenen Gründen verweigern. Ausserdem sind die betroffenen Personen nicht Partei des Rechtshilfeverfahrens und können dieses nicht mit dem in Art. 41 FINMAG vorgesehenen Mechanismus anfechten. Sie müssen ihre Rechte also im Strafverfahren wahrnehmen, in dem auf die amtshilfeweise übermittelten Beweismittel abgestellt wird.
Die Übermittlung von Beweisen an Strafbehörden, die gestützt auf eine verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht erlangt wurden, wirft zwangsläufig die Frage nach ihrer Verwertbarkeit im Strafverfahren auf. Dies ist die zentrale Frage des vorliegenden Urteils.
Das Bundesgericht hat bisher stets entschieden, dass das FINMA-Verfahren, auch in der Form eines Enforcement-Verfahrens, keine strafrechtliche Anklage i.S.v. Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstellt (vgl. BGE 147 I 57 [bez. Art. 34 FINMAG]; BGE 142 II 243 [bez. Art. 33 FINMAG]). Die strafprozessualen Garantien finden daher keine Anwendung, auch nicht sinngemäss. Entsprechend werden die von der FINMA erhobenen Beweismittel grundsätzlich auch im Strafverfahren als verwertbar angesehen, vorbehaltlich derjenigen, die durch unzulässigen Zwang («improper compulsion») erlangt wurden. Letzteres ist insbesondere bei Androhung einer strafrechtlichen Sanktion für die Verweigerung der Mitwirkung der Fall (BGE 142 IV 207, E. 8 f.; BGE 140 II 384, E. 3.3; BGE 138 IV 47, E. 2.6). Die Unverwertbarkeit wurde somit bis anhin anhand der strengen Grundsätze von Art. 140 und Art. 141 Abs. 1 StPO geprüft.
In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung begründet das Bundesgericht im Urteil 7B_45/2022 die Unverwertbarkeit der erlangten FINMA-Fragebogen mit einer Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren, da der nemo-tenetur-Grundsatz umgangen worden sei. Denn obwohl die FINMA sich bewusst war, dass der untersuchte Sachverhalt ebenfalls, in casu nach Art. 44 ff. FINMAG, strafrechtlich relevant sein könnte, habe sie es unterlassen, den Beschwerdeführer auf sein Mitwirkungsverweigerungsrecht hinzuweisen, und habe dadurch von ihm belastende Beweismittel erlangt, die später zur Einleitung eines Strafverfahrens und zur Begründung der Verurteilung dienten.
Der Erwägung 2.4 des Urteils – also des Untersatzes –ist zu entnehmen, dass es dem Bundesgericht vor allem darum geht, zu verhindern, dass der strafrechtliche nemo-tenetur-Grundsatz durch Verlagerung der Ermittlungshandlungen ins Verwaltungsverfahren umgangen respektive ausgehöhlt wird. Verhindert werden soll mit anderen Worten rechtsmissbräuchliches Verhalten der Behörden. Genau deshalb gewährt das Bundesgericht dem nemo-tenetur-Grundsatz eine "Fernwirkung" im Verwaltungsverfahren. Ziel ist es, die Verteidigungsrechte derjenigen sicherzustellen, die als Beschuldigte in ein Strafverfahren involviert sind oder womöglich sein werden.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der Ansatz des Bundesgerichts darin besteht, den Anwendungsbereich des nemo-tenetur-Grundsatzes auszuweiten, um einen Rechtsmissbrauch zu verhindern. Sein Vorgehen weist dabei einige Ähnlichkeit mit dem Rechtsmissbrauchsverbot selbst auf. Dieses gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz, auch im öffentlichen Recht, und dient als korrigierender Notbehelf für die Fälle, in denen formales Recht zu materiell krassem Unrecht führen würde (vgl. BGE 143 III 666 E. 4.2). Im Ergebnis wird eine Regel, die grundsätzlich anwendbar wäre, nicht angewandt. Ähnlich verhält es sich im vorliegenden Urteil mit dem nemo-tenetur-Grundsatz. Denn das Bundesgericht wendet den Grundsatz an, obwohl dieser eigentlich im Verwaltungsverfahren nicht anwendbar wäre, um materiell krasses Unrecht im Strafverfahren und die Umgehung der strafprozessualen Verfahrensgarantien zu verhindern.
In diesem Zusammenhang erinnert das vorliegende Urteil an ähnliche Urteile des EGMR in Steuerangelegenheiten, in denen Steuerbehörden einen Tatverdacht wegen Steuerstraftaten hatten und dennoch im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens unter Berufung auf die Mitwirkungspflicht der betroffenen Person Informationen von ihr herausverlangten (insb. EGMR vom 3. Mai 2001, J.B. g. Schweiz, 31827/96, § 63 ff. sowie EGMR vom 5. April 2012, Chambaz g. Schweiz, 11663/04, § 50 ff.). In diesen Urteilen stellt der EGMR klar, dass der nemo-tenetur-Grundsatz bereits Anwendung finden soll, sobald ein Strafverfahren absehbar oder unmittelbar bevorstehend ist.
Ebenfalls eine Rolle bei der Entscheidung des Bundesgerichts spielt die Tatsache, dass der Beschwerdeführer einen FINMA-Fragebogen ausfüllen musste, anstatt bloss bereits vorhandene Dokumente vorzulegen. Die Rechtsprechung des EGMR hält nämlich fest, dass Zwangsmassnahmen zur Erlangung vorbestehender, vom Willen des Beschuldigten unabhängigen Dokumente im Verwaltungsverfahren nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren und insbesondere gegen den nemo-tenetur-Grundsatz verstossen (EGMR vom 4. Oktober 2022, De Legé g. Holland, 58342/15, § 63 ff., insb. § 79 ff.). Das Bundesgericht stellt in seinem Urteil 7B_45/2022 ausdrücklich und unter Hinweis auf den De Legé Entscheid fest, dass der vorliegende Fall nicht mit jenem vergleichbar ist.
Schliesslich ist auch interessant festzuhalten, dass das Bundesgericht – wenn auch bloss in einem obiter dictum – betont, dass der nemo-tenetur-Grundsatz sowohl für natürliche als auch für juristische Personen gilt, sofern diese strafrechtlich verfolgt werden können (das Urteil verweist auf Art. 102 StGB und Art. 49 FINMAG). Diese Präzisierung, die bereits im Urteil 1B_92/2023 vom 11. Mai 2023 zu finden war (E. 5.4), ist insofern willkommen, als dass frühere publizierte Bundesgerichtsentscheide hinsichtlich der Tragweite des nemo-tenetur-Grundsatzes eine Unterscheidung zwischen natürlichen und juristischen Personen eingeführt hatten (vgl. BGE 140 II 384 E. 3.3.4; BGE 142 IV 207 E. 8.3.3).
Generell ist das Urteil 7B_45/2022 zu begrüssen, da es dem nemo-tenetur-Grundsatz auch im Verwaltungsverfahren (Fern-)Wirkung verleiht und mit einer in der Rechtsprechung bislang fest verankerten Tradition bricht, diesen Grundsatz auf ein Verbot der unzulässigen Zwangsausübung zu reduzieren (eine Tradition, die übrigens vom Beschwerdeführer kritisiert, aber von sämtlichen Vorinstanzen bestätigt wurde).
Es bleibt abzuwarten, ob die FINMA ihre Praxis im Nachgang an dieses Urteil anpassen wird. Sie könnte beispielsweise eine allgemeine Information über das Mitwirkungsverweigerungsrecht in ihre Formulare aufnehmen, wodurch verhindert würde, dass der Beschuldigte, der diese Fragebogen (trotzt Belehrung) aufgrund seiner Mitwirkungspflicht ausfüllt, deren spätere Verwertbarkeit im Strafverfahren anfechten könnte. Die FINMA könnte ihre Praxis aber auch unverändert beibehalten und sich darauf berufen, dass die Verwertbarkeit der von ihr erhobenen Beweismittel im Strafverfahren nicht ihre Sache sei.
Es stellt sich zudem die Frage nach den weiteren Konsequenzen, die sich aus dieser Rechtsprechung ergeben könnten. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass sie in einem weiteren Sinne auch auf andere, nicht vorbestehende Dokumente oder Informationen Anwendung findet, die der FINMA im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht mitgeteilt werden. Fraglich ist darüber hinaus auch der Umgang mit Aussagen, die etwa durch einen Untersuchungsbeauftragten im Rahmen eines Enforcement-Verfahrens erhoben werden, ohne dass eine entsprechende Belehrung erfolgt ist, sowie ganz allgemein mit dem vom Untersuchungsbeauftragten erstellten Bericht und der anschliessenden FINMA-Verfügung.
Im Übrigen lassen sich die dem Urteil zugrundeliegenden Überlegungen mutatis mutandis auch auf andere Bereiche übertragen, in denen verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflichten vorgesehen sind, sofern die von der Verwaltungsbehörde erhobenen Elemente mit einer Strafverfolgungsbehörde geteilt werden könnten, beispielsweise auf dem Gebiet der indirekten Steuern.
Zitiervorschlag: Andrew Garbarski/Louis Frédéric Muskens/Mattia Brugger, Kommentar zum Urteil des Bundesgerichts 7B_45/2022 vom 21. Juli 2025, in: www.verwaltungsstrafrecht.ch vom 24. September 2025
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