lex mitior und Legalitätsprinzip
In BGer 6B_144/2021 vom 9. Dezember 2022 (abrufbar unter: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=&to_date=&sort=relevance&insertion_date=&top_subcollection_aza=all&query_words=6B_144.2021&rank=1&azaclir=aza&highlight_docid=aza%3A%2F%2F09-12-2022-6B_144-2021&number_of_ranks=1316) befasst sich das Bundesgericht mit der Lex Mitior-Regel und dem Legalitätsprinzip.
Dem Entscheid liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Mit der als Bestandteil der Anklage geltenden Strafverfügung vom 19. Juni 2019 warf die Eidgenössische Spielbankenkommission ("ESBK") A vor, mehrfach Spielautomaten aufgestellt zu haben, ohne die hierfür notwendigen Konzessionen resp. Bewilligungen zu besitzen. Mit Urteil vom 13. November 2019 sprach das Bezirksgericht Dietikon A der mehrfachen Widerhandlung gegen das Bundesgesetz vom 29. September 2017 über Geldspiele (Geldesspielgesetz, "BGS"; SR 935.51) im Sinne von Art. 130 Abs. 1 lit. a BGS schuldig. In einigen Fällen sprach es A frei. Auf entsprechende Berufung von A und der ESBK hin, verurteilte das Obergericht A unter Anwendung des ehemaligen Spielbankengesetzes ("SBG" SR 935.52) wegen mehrfacher Übertretung i.S.v. Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG zu einer Busse von CHF 4'500. Den Freispruch bestätigte das Obergericht.
Gegen diesen Entscheid führte die ESBK erfolglos Beschwerde vor Bundesgericht und rügte eine falsche Anwendung der Lex Mitior-Regel und eine falsche Rechtsanwendung im Zusammenhang mit dem Freispruch.
Das Bundesgericht entschied, dass die Vorinstanz die Lex Mitior-Regel richtig angewandt habe, indem sie das im Tatzeitpunkt, Frühling 2016, geltende Recht, konkret das SBG angewandt habe. Das SBG sieht in Art. 56 Abs. 1 lit. a eine Übertretung vor, die mit Busse bis zu CHF 500'000 oder Haft bestraft wird, während Art. 130 Abs. 1 lit. a BGS eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vorsieht. Das Bundesgericht entschied, dass es sich bei Art. 56 Abs. 1 lit. a SBG um das mildere Recht handle und führte hierzu in E. 2.4.3 Folgendes aus:
"Nicht gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin indes, wenn sie vorbringt, der Beschwerdegegner sei bei einer Beurteilung nach dem Geldspielgesetz mit einer bedingten Geldstrafe zu bestrafen, was nach der in BGE 134 IV 82 begründeten Rechtsprechung gegenüber einer unbedingten Busse stets die mildere Sanktion sei. So hat das Bundesgericht im kürzlich publizierten BGE 147 IV 471 die Grundsätze zur Bestimmung der "lex mitior" dargelegt (E. 4) und ausgeführt, aus BGE 134 IV 82 E. 7.2.4 liesse sich nicht ableiten, dass eine Busse generell als schärfere Sanktion als eine bedingte Geldstrafe zu gelten habe (E. 5). Das genannte Bundesgerichtsurteil sei im Zusammenhang mit der Revision des per 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Sanktionenrechts ergangen. Der darin vorgenommene Vergleich von Geldstrafen und Bussen beziehe sich auf die Konstellation, in der die altrechtliche Busse, wo sie nicht bloss der Sanktionierung von Übertretungen diente, durch die Geldstrafe ersetzt wurde, respektive neu als Geldstrafe bezeichnet werden sollte. In solchen Fällen, bei denen eine reine Anpassung der Begrifflichkeiten erfolge, seien Bussen und Geldstrafen qualitativ gleichwertig. Habe der Gesetzgeber bei einer Gesetzesänderung jedoch gezielt eine Strafschärfung vorgesehen und altrechtliche Übertretungen bewusst zu Vergehen oder gar Verbrechen hochgestuft, wie dies bei der Einführung des Geldspielgesetzes der Fall gewesen sei, stelle die altrechtliche Busse, mit welcher eine Übertretung sanktioniert werde, unabhängig von der Strafvollzugsmodalität und der Höhe des Betrags stets die mildere Strafe als die neurechtliche Geldstrafe dar (BGE 147 IV 471 E. 5.1 - 5.3; kürzlich bestätigt in den Urteilen 6B_548/2021 vom 5. Oktober 2022 E.1.2 f.; 6B_995/2021 vom 15. August 2022 E. 2.2 f.). Vorliegend besteht kein Anlass anders zu entscheiden. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in BGE 147 IV 471 ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Geldspielgesetz als das strengere Recht qualifiziert und das Spielbankengesetz als das mildere Recht anwendet."
Auch den Freispruch der Vorinstanz bestätigte das Bundesgericht. Es entschied, dass die Vorinstanz zu Recht davon ausging, dass gewisse Spiele der Spielplattform "Diamond Casino", die A angeboten hatte, gesetzlich nicht als "Glückspiele" i.S.v. Art. 56 SBG definiert waren und eine Verurteilung deshalb gegen das Legalitätsprinzip verstosse. Konkret hatte die ESBK die genannten Spiele in der Qualifikationsverfügung Nr. 532-004/01 vom 26. Februar 2014 unter "faktisch gleiche Spiele" wie die Spiele der Spielplattform "Magic Entertainment" subsumiert und als illegale Glücksspielautomaten gemäss Art. 3 Abs. 2 SBG definiert und bei ihrer Strafverfügung hierauf abgestützt. Zu Recht wies das Bundesgericht, darauf hin, dass aus der Qualifikationsverfügung nicht ersichtlich sei, welche Spiele unter "faktisch gleiche Spiele" falle. Dass die ESBK die "faktische Gleichheit" mit einem Referenzbericht konstatiert hatte, spiele keine Rolle, denn für einen Anbieter erschliesse sich aus der Qualifikationsverfügung nicht, welche Spiele unter "faktisch gleiche Spiele" wie "Magic Entertainment" falle und welche nicht. Es sei somit für den Anbieter gestützt auf die vorhandenen gesetzlichen Grundlagen nicht zu beurteilen, welches Verhalten strafbar sei und welches nicht. Eine Verurteilung verletze deshalb Art. 1 StGB.
Mit dem Entscheid betreffend die Lex-Mitior-Regel bestätigt das Bundesgericht die in BGE 147 IV 471 erörterte Rechtsprechung, wonach sich die Frage, welches Recht das mildere ist, sich nicht abstrakt, sondern in Bezug auf den konkreten Fall beurteilt (Grundsatz der konkreten Vergleichsmethode). Das Gericht hat die Tat sowohl nach altem als auch nach neuem Recht (hypothetisch) zu prüfen und durch Vergleich der Ergebnisse festzustellen, nach welchem der beiden Rechte der Täter bessergestellt ist. Die günstigere Rechtslage bestimmt sich dabei nicht nach dem subjektiven Empfinden des Täters, sondern nach objektiven Gesichtspunkten (Grundsatz der Objektivität).
Steht einmal fest, dass die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens unter neuem Recht fortbesteht, sind die gesetzlichen Strafrahmen bzw. Sanktionen zu vergleichen. In der Rangordnung, die sich aus der Abstufung der Strafarten und der Strafvollzugsmodalitäten ergibt, liegt eine Bewertung des Gesetzgebers, die dem Vergleich zwischen altem und neuem Recht als verbindlicher Massstab zu Grunde zu legen ist. Auszugehen ist daher von einer eigentlichen Kaskadenanknüpfung:
1. Die Sanktionen (Hauptstrafen) sind nach der Qualität der Strafart zu vergleichen.
2. Bei gleicher Strafart entscheidet sich der Vergleich aufgrund der Strafvollzugsmodalität.
3. Bei gleicher Strafart und Strafvollzugsmodalität kommt es auf das Strafmass an.
4. Bei Gleichheit der Hauptstrafe sind allfällige Nebenstrafen zu berücksichtigen.
Vorliegend qualifiziert das neue Recht das strafbare Verhalten als Vergehen, während das alte Recht dasselbe Verhalten noch als Übertretung qualifizierte. Damit entschied sich der Gesetzgeber für eine Verschärfung der Straftat und änderte entsprechend die Strafart von einer Übertretung in ein Vergehen ab. Ob der Vollzug bedingt oder unbedingt zu vollziehen ist, ist bei einer objektiven Betrachtung der Strafe irrelevant.
Der Entscheid ist somit zu begrüssen. Das gilt selbstredend auch für die festgestellte Verletzung des Legalitätsprinzips. Vor dem Grundsatz nulla poena sine lege kann vom Anbieter von Glückspielen nicht erwartet werden, dass er sich für die Frage, ob sein Verhalten strafbar ist oder nicht mit einem Referenzbericht auseinandersetzt, der weder amtlich noch sonst wie publiziert ist.
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