Entsiegelung und kein Ende (Art. 50 VStrR)
Sich widersprechende Urteile sind selten gut, erst recht nicht, wenn sie vom Bundesgericht und dabei von der gleichen Abteilung kommen. Einen für die Rechtssicherheit besonders gravierenden (Fehl-)Entscheid stellt nun das Urteil 7B_1352/2024, 7B_1353/2024 vom 16. September 2025 (hier abrufbar: http://relevancy.bger.ch/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2F16-09-2025-7B_1352-2024&lang=de&type=show_document) dar.
Die für ihre rechtsstaatlichen und mutigen Entscheidungen eigentlich bekannte II. strafrechtliche Abteilung führt dort in einem Entsiegelungsverfahren wie folgt aus (E. 5.2.2.):
"Nach den Feststellungen der Vorinstanz übergab die ESTV das Entsiegelungsgesuch vom 17. Dezember 2021 am 20. Dezember 2021 der Post, nachdem A.A.________ und die B.________ AG am 11. November 2021 das Siegelungsbegehren gestellt hatten. Inwiefern die ESTV damit gegen Art. 29 Abs. 1 BV verstossen haben sollte, ist weder rechtsgenüglich dargetan noch offensichtlich mit Blick auf die Rechtsprechung, wonach die Frist von 20 Tagen für die Einreichung des Entsiegelungsgesuchs gemäss Art. 248 Abs. 3 StPO im Verwaltungsstrafverfahren keine Anwendung findet (vgl. Urteile 1B_414/2013 vom 29. April 2014 E. 2.2; 1B_641/2012 vom 8. Mai 2013 E. 3.2). Auf diesen Punkt ist nicht weiter einzugehen." (Hervorhebung durch mich)
Im Entscheid 1B_432/2021 vom 28. Februar 2022 - einem Entsiegelungsverfahren in einem Zollstrafverfahren (= Verwaltungsstrafrecht) -, welcher als BGE 148 IV 221 in die amtliche Sammlung aufgenommen wurde, führt die II. strafrechtliche Abteilung dagegen noch wie folgt aus (E. 3.3.):
"Der sachgerechte Ablauf würde überdies nahelegen, dass die Frist für das gemäss Art. 248 Abs. 2 StPO innert 20 Tagen zu stellende Entsiegelungsgesuch ab dem Zeitpunkt der Siegelung zu laufen beginnt und dieses nicht wie hier bereits vorher eingereicht wird. Würde für den Beginn der Frist allenfalls alternativ auf den Zeitpunkt des Antrags des Beschwerdeführers um Siegelung abgestellt, wäre die Frist im Übrigen bereits abgelaufen, bevor das Entsiegelungsgesuch gestellt wurde. Würde sie ab dem Maileingang vom 14. September 2020 berechnet, hätte sie am 5. Oktober 2020 geendet; würde vom Eingang des schriftlichen Siegelungsgesuchs bei der Zollverwaltung am 17. September 2020 ausgegangen, wäre der Endtermin der 7. Oktober 2020 gewesen. Die Zollverwaltung stellte das Entsiegelungsgesuch jedoch erst am 8. Oktober 2020." (Hervorhebung durch mich)
Erstaunlich ist, dass das Bundesgericht im hier kritisierten Entscheid sogar in anderen Teilen auf BGE 148 IV 221 abstellt (ebendort E. 3.2.), ohne aber den Widerspruch zum letztgenannten Entscheid zu erkennen.
Dabei muss die 20-tägige Frist selbstverständlich auch im Verwaltungsstrafrecht gelten (vgl. etwa Frank/Blattner/Leu, WiJ 2013, 171 ff.; BSK VStrR-Jeker, Art. 50 N 64), was sich wiederum aus dem hier kritisierten Entscheid ergibt, in welchem unter E. 3.2 ausgeführt wird:
"Insbesondere im Bereich der Durchsuchung von Papieren gemäss Art. 50 VStrR bietet es sich grundsätzlich an, auf die Regeln und die Praxis zur Durchsuchung von Aufzeichnungen nach Art. 246 ff. StPO zurückzugreifen (zum Ganzen: Urteil 7B_515/2024 vom 3. April 2025 E. 2.1 mit Hinweisen)."
Aha - es sollen also insbesondere bei der Durchsuchung von Papieren die Art. 246 ff. StPO entsprechend anwendbar sein - Art. 248 Abs. 4 StPO aber ausgerechnet nicht, weil eben gerade hier keine Regelungslücke bestehen soll, sonst aber schon...wann hört das endlich auf.
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