Entsiegelungsverfahren
Im Beschluss vom 18. August 2020 (BE.2020.12; abrufbar unter: https://bstger.weblaw.ch/pdf/20200818_BE_2020_12.pdf) befasst sich die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts mit der Frage der Zulässigkeit der Siegelung eines iPhones eines Club-Betreibers, der unter Verdacht steht, gegen Art. 130 Abs. 1 des Geldspielgesetzes (BGS, SR 935.51) verstossen zu haben.
Dem Entscheid liegt zusammengefasst der folgende Sachverhalt zugrunde:
Aufgrund eines Verdachts auf Verstösse gegen die Covid-19 Verordnung 2 führte die Kantonspolizei Aargau am 6. Mai 2020 in den Räumlichkeiten des Club "B" eine Hausdurchsuchung durch. Konkret gingen bei der Polizei Aargau im März und April 2020 mehrere Hinweise ein, wonach sich im Club "B" trotz der zu diesem Zeitpunkt geltenden Corona-Massnahmen des Bundesrates zeitgleich mehrere Personen aufhielten. Im Rahmen zweier Hausdurchsuchungen am 6. und am 29. Mai 2020 stellte die Kantonspolizei Aargau zu Handen der Eidgenössischen Spielbankenkommission (nachfolgend ESBK) u.a. insgesamt drei Spielautomaten, auf welchen mutmasslich Spielbankenspiele i.S.v. Art. 3 lit. g BGS ohne die entsprechende Konzession und Bewilligung (Art. 4 und Art. 130 Abs. 1 BGS) angeboten wurden, das sich darin befindliche Bargeld, sowie das im Eigentum des Beschuldigten A stehende iPhone11 sicher. A verlangte anlässlich der Hausdurchsuchung am 6. Mai 2020 die Siegelung des iPhone11.
Mit Eingabe vom 6. Juni 2020 ersuchte die ESBK bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts um Entsiegelung. Die Beschwerdekammer hielt in einem ersten Schritt fest, dass das Entsiegelungsgesuch der ESBK, welches einen Monat nach der Siegelung beim Gericht eingereicht wurde, rechtzeitig erfolgte. Die Beschwerdekammer erwog, dass das VStrR im Gegensatz zu Art. 248 Abs. 2 StPO keine Frist für das Entsiegelungsbegehren vorsehe. Mit Verweis auf das Urteil des Bundesgerichts 1B_641/2012 E. 3.3 vom 8. Mai 2013 und ohne weitere Begründung erachtete die Beschwerdekammer das Beschleunigungsgebot als nicht verletzt, wenn das Entsiegelungsgesuch, wie vorliegend, einen Monat nach der Siegelung eingereicht werde (E. 2.2).
In einem zweiten Schritt prüfte die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts die Zulässigkeit der Entsiegelung. Hierfür prüfte sie, ob die Anordnung einer Durchsuchung des beschlagnahmten iPhone11 zulässig ist und ob die Voraussetzungen einer Entsiegelung vorliegend erfüllt sind. Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts hielt fest, dass die eine Durchsuchung des iPhones in Anwendung von Art. 50 Abs. 1 VStrR zulässig sei, sofern (1) ein hinreichender Tatverdacht vorliege, (2) anzunehmen sei, dass sich darin "Schriften" befinden, die für die Untersuchung von Bedeutung sind und (3) der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt werde (E. 3.1 f.).
Gestützt auf die Ermittlungsergebnisse (gemeint ist wohl der Polizeirapport) ging die Beschwerdekammer von einem hinreichenden Tatverdacht aus. Die sichergestellten Spielautomaten seien zwar im Zeitpunkt der Hausdurchsuchung abgeschaltet, aber noch warm gewesen. Zudem sei in den Spielautomaten Bargeld sichergestellt worden, was darauf hindeute, dass die Automaten unmittelbar vor der Hausdurchsuchung in Betrieb waren. Entsprechend bejahte es den hinreichenden Tatverdacht (E. 3.2 f.). Ferner hielt die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts auch die sog. "potenzielle Erheblichkeit" der versiegelten Gegenstände als gegeben (vgl. BGE 132 IV 63 E. 4.4; Urteil des Bundesgerichts 1B_336/2018 vom 8. November 2018 E. 4.3). Beim Gesuchsgegner handle es sich gemäss Aussagen der vor Ort angetroffenen Besucher des Club "B" um dessen Betreiber. Dieser habe die Besucher des Clubs "B" jeweils über sein iPhone für das Spielen auf den Wettcomputern freigeschaltet. Gestützt auf diese Aussagen erachtete es die Beschwerdekammer für wahrscheinlich, dass das versiegelte iPhone Aufschluss über den Zeitpunkt des Aufstellens der Spielautomaten, die Ein- und Auszahlung der Kreditbeträge bzw. Gewinne, sowie über allfällige weitere Beteiligte Aufschluss geben könne (E. 4.2.).
Schliesslich gelangte die Beschwerdekammer zum Schluss, dass der Gesuchsgegner weder Geheimnisschutzinteressen noch andere Entsiegelungshindernisse geltend gemacht habe, weshalb das Entsiegelungsgesuch gutzuheissen sei (E. 4.3). Zur Verhältnismässigkeit der Zwangsmassnahme äusserte sich die Beschwerdekammer nicht.
Zu diesem Entscheid sind folgende Bemerkungen anzubringen:
1. Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts äusserte sich in diesem Entscheid nicht zur Frage der Zulässigkeit von Zufallsfunden, obwohl die im Rahmen einer wegen Verdachts auf Widerhandlungen gegen die Covid-19 Verordnung 2 durchgeführten Hausdurchsuchung beschlagnahmten Spielautomaten, resp. das beschlagnahmte iPhone zweifelsohne Zufallsfunde sind. Es führte einzig aus, dass die Hausdurchsuchung gestützt auf eine anonyme E-Mail, wonach im Club "B" illegale Glücksspiele gespielt würden, auch aufgrund eines Verdachts der Wiederhandlung gegen das Geldspielgesetz hätte angeordnet werden können, weshalb die Zufallsfunde verwertbar seien. Dabei verwies es auf den Beschluss des Bundesstrafgerichts BV.2020.1 vom 27. März 2020, E. 4.2. In Letzterem entschied die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, dass zwar im VStrR eine Bestimmung zur Verwertbarkeit von Zufallsfunden fehle, diese allerdings zulässig sei, wenn die Zwangsmassnahme, anlässlich derer der Zufallsfund gemacht wurde, zulässig war und diese auch für den neuen Tatverdacht hätte angeordnet werden können und keine besonderen Umstände wie Berufsgeheimnis oder Aussageverweigerungsrecht vorliegen (E. 4.2 und 4.3). Mit Verweis auf TPF 2013 182, E. 2.2 begründete die Beschwerdekammer des Bundestrafgerichts diese Praxis mit der analogen Anwendung der Regeln zu Zufallsfunden in den Kantonen, bevor die StPO in Kraft trat. Darauf, dass die Überbrückung dieser Gesetzeslücke durch diesen Analogieschluss höchstbedenklich ist, nicht zuletzt wegen der sehr uneinheitlichen kantonalen Regelung von Zufallsfunden vor der Einführung von Art. 248 StPO, wurde bereits in der Urteilsbesprechung vom 24. April 2020 hier auf dem Blog hingewiesen (hier abrufbar: https://verwaltungsstrafrecht.ch/de/kategorien/verfahrensrecht/beschlagnahme). Anstelle dieser unschönen "Überbrückungslösung" stellt sich ein Teil der Lehre auf den Standpunkt, dass die Verwertung von Zufallsfunden auch ohne gesetzliche Grundlage im VStrR zulässig sei. Dies weil ein Zufallsfund, der im Rahmen einer gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahme entdeckt und verwertet wird, kein weiterer Grundrechtseingriff i.S.v. Art. 36 der Bundesverfassung darstellt, sondern trotz fehlender spezifischer Verdachtsgrundlage von der gesetzlich vorgesehenen und angeordneten Zwangsmassnahme gedeckt ist (BSK VStrR-Coninx, Art. 45 N 35 ff.; ausdrücklich a.A. BSK VStrR-Jeker, Art. 50 N 35 ff.).
2. Weiter erachtete die Beschwerdekammer des Bundestrafgerichts unter Hinweis auf BGE 132 IV 63 (kritisch hierzu: Frank/Blattner/Leu, WiJ 2013, 171 ff.) und das Urteil des Bundesgerichts 1B_336/2018 vom 8. November 2018 das nach Ablauf eines Monats eingereichte Entsiegelungsgesuch als fristgerecht. Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts habe wiederholt Fristen von rund zwei Monaten als zulässig erachtet, weshalb auch die Frist von einem Monat mit dem Beschleunigungsgebot vereinbar sei (E.2.2). Dies erstaunt deshalb, weil das Bundesstrafgericht in seiner früheren Rechtsprechung selber empfahl, sich bei der Entsiegelungsgesuchen an der Frist von 20 Tagen gemäss Art. 248 StPO zu orientieren (BStGer BE.2009.21, E. 1.4 vom 14. Januar 2010, vgl. hierzu BSK VStrR-Jeker, Art. 50 N 64). Geradezu grotesk wird diese Rechtsprechung aber, wenn man sie mit in den Entscheiden RR.2019.219 und RR.2019.220 des Bundesstrafgerichts v. 25. Mai 2020 in Verbindung setzt. In diesen führt das Gericht zum Nachteil der Entsiegelungsbetroffenen (und in Widerspruch zu BGer 1B_376/2019 v. 12.09.2019) aus, dass von der Verwaltungsstrafbehörde schnellst möglich eine Datenkopie angefertigt werden müsse, welche aufgrund dieser besonderen Dringlichkeit von der Untersuchungsbehörde selbst (und eben nicht vom Entsiegelungsgericht, dem Bundesstrafgericht) beim fedpol in Auftrag gegeben werden könne, ja gar müsse (sog. «Unlock and Extraction Auftrag»). Wie dringlich die Sache wirklich ist, zeigt sich nun am hier besprochenen Entscheid, wo eine Entsiegelung erst nach dreissig Tagen beantragt werden kann, ohne dass es hiervor zu einem Unlock-Auftrag kam. Oder in anderen Fällen, wo ein Entsiegelungsgesuch erst nach ca. anderthalb Jahren (sic!) gestellt wurde, was vom Bundesstrafgericht ebenfalls noch als ausreichend erachtet wurde, BE.2019.6 v. 19. Juni 2020). Würde das Bundesstrafgericht wirklich von einer besonderen Dringlichkeit aufgrund potentiell drohendem Datenverlust bei sichergestellten Mobiltelefonen ausgehen (übrigens ohne dass hierfür irgendwelche Anzeichen vorliegen), so dürfte es keine erst dreissig Tage nach Einsprache gestellten Entsiegelungsanträge gutheissen, sondern müsste die Untersuchungsbehörden anweisen, sichergestellte Mobiltelefone direkt an das Entsiegelungsgericht zu übersenden. Offenbar wird aber immer so argumentiert, wie es auf den konkreten Fall passt, ohne dabei Rücksicht auf bereits ergangene Entscheide zu nehmen.
3. Im Zusammenhang mit der Beurteilung der Zulässigkeit der Entsiegelung wies das Bundesgericht in E. 4.1. einmal mehr auf die prozessuale Obliegenheit des Gesuchsgegners hin, Gegenstände (i.c. Daten) zu benennen, die offensichtlich keinen Sachzusammenhang mit der Strafuntersuchung haben und deshalb der Entsiegelung entgegenstehen. Die Beschwerdekammer macht zwischen den Zeilen deutlich, dass es dem Gesuch entgegenstehende Geheimnisschutzinteressen (oder andere gesetzliche Entsiegelungsinteressen), welche einer Durchsuchung seitens der Verwaltungsstrafbehörde entgegenstehen, nicht aus eigener Initiative, sondern nur auf Vorbringen des Gesuchsgegners prüft.
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